Burn-out – Volksleiden oder Modekrankheit?
Gestresst und ausgebrannt: Immer mehr Deutsche klagen über psychische Leiden. Doch müssen Unternehmen und Gesellschaft wirklich etwas verändern – oder müssen wir einfach belastbarer werden?
Burn-out: Die Jagd nach Anerkennung riss mich in die Tiefe
Melanie Goel
Product-Designer, ehemalige Burn-out Betroffene
- Nach jahrelangem Leistungssport und Karriereeifer brach ich zusammen
- Das Wichtigste ist, zu merken, dass sich etwas verändern muss
- Es gibt einen Indikator, der jedem helfen kann, sich vor Burn-out zu schützen
Leistung und Anerkennung waren meine Identität. Mit drei Jahren bestritt ich meinen ersten Langlaufwettkampf. Das Adrenalin und der Erfolg, die ich bei diesen Rennen erlebte, prägten mich für mein Leben. Sie motivierten mich schon damals, immer Höchstleistungen erbringen zu wollen. Von dieser Zeit an bewegte ich mich durchgehend in einer wettbewerbsgeprägten Umwelt. Es ging immer um Leistung, um Anerkennung, um das Überschreiten von Grenzen.
Wenn man als Kind im Leistungssport mit solchen Werten aufwächst, übertragen sich diese Muster schnell auf alle anderen Bereiche des Lebens. Leistung und die Arbeit wurden zu meiner Bewältigungsstrategie für alle Arten von Problemen. Im Vergleich zu Alkohol oder Drogen ist das sicherlich die weniger schädigende Vorgehensweise, nichtsdestotrotz habe auch ich die körperlichen Auswirkungen eines solchen Lebensstils zu spüren bekommen: Im Sport, in meinem Studium und dann auch in meinen Jobs verausgabte ich mich jahrelang komplett – und litt währenddessen unter Migräne, Herzstechen, Bewusstlos-Werden und Panikattacken. Nach einem finalen Zusammenbruch auf der Autobahn ließ ich mich schlussendlich für drei Monate in eine psychosomatische Klinik einweisen.
Weniger gibt mir mehr
Die psychologische Behandlung war wichtig, aber erst der Beginn. Der Wendepunkt kam bei mir dann von einem Tag auf den anderen. An einem Tag, an dem es mir eigentlich gar nicht besonders gut ging. Auf Vorschlag meines Mannes sahen wir uns an diesem regnerischen Tag eine Dokumentation über Minimalismus an. Dieser Film öffnete mir die Augen und motivierte mich, etwas ganz Grundlegendes in meinem Leben zu ändern: Es braucht sehr wenig, um wirklich glücklich zu sein – ein angesehener Titel für einen stressigen Job, der viel Geld bringt, aber krank macht, gehört jedoch nicht dazu.
Quasi über Nacht entschied ich mich, 80 Prozent meines Eigentums und damit auch meinem emotionalen Ballast loszuwerden. Und damit begann ein neues Leben für mich. Ein Leben, in dem ich weniger arbeiten kann, weil ich weniger Geld brauche. Ein Leben, in dem ich diese neu gewonnene Zeit für meine Freunde, Familie und für Projekte, die mir wirklich am Herzen liegen, investieren kann.
Hinter den Themen Besitz und Minimalismus steckt so viel. Wir alle streben nach Dingen, die uns als wichtig vorgelebt werden: Wir wollen viel erreichen, viel arbeiten und viel besitzen und laufen dabei ein unendliches Rennen im Hamsterrad des modernen Lebens. Um uns für die harte Arbeit zu belohnen, kaufen wir teure Dinge, die dazu führen, dass wir mehr arbeiten müssen, um uns diese Dinge dauerhaft leisten zu können. Doch das Glücksgefühl nach dem Kauf hält nicht lange an, und schon geht die Suche weiter nach dem nächsten kurzfristigen „Shopping-High“.
Nachdem ich so viel von meinem Besitz gespendet oder weggegeben hatte, konnte ich endlich sehen, dass ich zu vielen und vor allem den falschen Zielen hinterhergelaufen war. Ein Titel, ein hohes Gehalt, ein teures Auto bedeuten nicht automatisch ein erfülltes Leben – oftmals sogar im Gegenteil.
Das Streben nach Erfolg ist menschlich – in einem gewissen Maße
Wir alle wachsen damit auf, dass wir erst etwas sind, wenn wir einen Titel haben. So war es auch gekommen, dass ich nach meiner Zeit im Leistungssport zunächst die Herausforderung in meinem Studium suchte, danach als Head of in einem Start-up und schließlich als Marketingmanager bei einem bekannten amerikanischen Elektroautobauer.
Doch erst als ich durch meinen Burn-out komplett aus diesem Leben herausgerissen worden war und durch die Therapie Zeit zum Nachdenken fand, konnte ich erkennen: Ich brauche das alles nicht, um glücklich zu sein! Nach diesem Eingeständnis konnte ich weiterdenken. Wenn ich einen Burn-out erlebe, nur weil ich erfolgreich sein will, dann ist es vielleicht nicht die richtige Branche für mich. Denn ich glaube, dass etwas erst dann nachhaltig ist, wenn man Spaß an dem hat, was man tut, und dabei nicht seine Gesundheit aufopfern muss. Von dieser Überlegung hangelte ich mich zum nächsten Gedanken: Was ist das denn dann eigentlich, mein „Bereich“? Diese Frage mag einfach klingen, aber tatsächlich ist es für jemanden nach einem Zusammenbruch extrem schwer, von der ersten Erkenntnis bis zu solchen schon recht konkreten Zukunftsplanungen zu gelangen.
Dabei haben dann meine Familie und Freunde eine große Rolle gespielt. Oft kennen einen diese Menschen besser, als man sich selbst kennt. Ich wusste, dass kein Weg zurück ins Marketing führt. Ich wusste aber auch nicht, wo es sonst hingehen soll. Immer wieder haben sie mich ermuntert, etwas Kreatives zu machen und es einfach mal auszuprobieren. Aber der Job erschien mir früher als zu wenig „angesehen“. In dieser Phase dachte ich mir jedoch – was soll schon passieren, wenn ich es mal probiere? Und siehe da, ich habe meine erste Berufung gefunden, die mich wirklich glücklich macht.
Doch was hier einfach klingt, war ein harter Weg, auf dem ich ständig meine innere Stimme bekämpft habe. Die Stimme, die einem sagt, dass man versagt hat, während alle anderen erfolgreich sind. Und dabei hatte ich immer das Gefühl, dass ich allein mit meinen Problemen war. Dann aber fing ich an, über meine Angst, zu versagen, und das Gefühl, ein Niemand ohne berufliche Anerkennung zu sein, zu sprechen. Und ich merkte, dass es vielen Menschen ähnlich ging wie mir. Inzwischen glaube ich, dass gerade wir Millennials vom schnellen Aufstieg gelockt und krank gemacht werden. Beruflicher Erfolg ist wie ein Rausch, der einen schnell über Symptome hinwegsehen lässt. Man fühlt sich für einen Moment gut, wie der tollste Hecht im Teich – auch wenn dieser Erfolg oft teuer erkauft ist, letztendlich kaum etwas bedeutet und nichts über die eigene Persönlichkeit aussagt.
Wenn man den Ausstieg aus diesem psychischen Hamsterrad doch noch findet, ist es essenziell, sich selbst bewusst zu machen, dass man auch ohne Beförderung oder ohne Lob von irgendwelchen Chefs ein toller Mensch ist und bleibt. Es war nicht einfach, aber ich habe aufgehört, mich über die Anerkennung im Beruf zu definieren.
Dem Tunnelblick entkommen
Viele negative Begleiterscheinungen und Probleme blendet man im Tunnelblick der erfolgreichen Arbeit aus. Aber trotz des echten und des vermeintlichen Stresses kann man als Betroffener oder als Betroffene erkennen, wenn etwas schiefläuft – der Indikator dafür ist das soziale Umfeld. Als es sich bei mir auf das Burn-out zuspitzte, war ich immer müde, erschöpft und begann mich immer mehr abzukapseln – nicht beruflich, hauptsächlich privat. Ich sagte Verabredungen kurzfristig ab, antwortete für Wochen nicht auf Nachrichten meiner engsten Freunde und saß an Familienwochenenden oft still am Tisch.
Heute weiß ich, dass es fast allen Menschen mit Burn-out so geht. Deswegen ist genau diese Situation ein guter Moment, zu erkennen, dass sich das Arbeitsleben zu etwas Ungesundem entwickelt. Sobald man merkt, dass das engste soziale Umfeld unter dem Arbeitsdruck leidet, ist es Zeit, zu handeln. Denn was ich ebenfalls gelernt habe, ist, dass nichts – absolut gar nichts – passiert, wenn man mal eine Aufgabe nicht zu Ende macht oder einen After-Work-Drink sausen lässt. Schlussendlich ist das soziale Umfeld im Ernstfall unersetzlich, der Networkingkontakt nicht.
Stress, die Jagd nach Anerkennung und der Druck, stetig auf der beruflichen Karriereleiter nach oben klettern zu müssen – das alles kann wie eine Lawine sein. Aber die gute Nachricht ist: Man kann dieser Lawine entkommen und man kann, sollte sie doch losgetreten worden sein, sich auch wieder daraus befreien. Indem man sein soziales Netzwerk pflegt, den Mut findet, beruflich auch „Nein“ zu sagen, und die eigene Situation immer wieder reflektiert: Dazu muss man sich einerseits fragen, was einen wirklich glücklich macht. Und andererseits erfordert es, dass man immer ehrlich zu sich ist und den Mut aufbringt, notfalls auch die Konsequenzen zu ziehen. Und befindet man sich schon mitten in der Krise, kann diese Konsequenz auch bedeuten, dass man sich ärztliche Hilfe sucht, sich eine Auszeit nimmt oder sogar kündigt.
Das alles klingt nach viel, ich weiß. Aber aus meiner eigenen Erfahrung kann ich sagen: Die Arbeit, die Sie hier in sich selbst investieren, wird sich in Ihrem Leben mehr auszahlen als jedes Gehalt.